Dieser Blogbeitrag ist Teil der Reihe #RollKRIT (Rollenspiele zum Kampf gegen Rechtsextremismus durch Förderung von Inklusion und Toleranz). english below
Teil 10 – Paranoia
Das Rollenspiel Paranoia wurde 1984 von Greg Costikyan, Dan Gelber und Eric Goldberg entwickelt und erstmals von West End Games veröffentlicht. Es entstand in einer Zeit des Kalten Krieges, geprägt von gegenseitigem Misstrauen, Überwachung und der ständigen Angst vor Spionage und Subversion. Diese politischen Spannungen fanden in Paranoia eine satirische Umsetzung: Die Spielenden übernehmen die Rolle von „Troubleshootern“ in Alpha-Komplex, einer dystopischen Untergrundstadt, die von einer allwissenden Künstlichen Intelligenz, dem Computer, überwacht wird.
Der Computer fordert absolute Loyalität, duldet keine Abweichung und sieht in jeder Form von Ungehorsam – selbst im Gedanken daran – eine Bedrohung. Die Spielenden müssen Befehle ausführen, Verräter entlarven und gleichzeitig ihre eigene Haut retten. Doch sie selbst sind oft Mitglieder geheimer Organisationen oder besitzen Mutationen – beides bedeutet natürlich Hochverrat. Letztlich kann niemand im Spiel wirklich gewinnen, aber alle können auf skurrile und spektakuläre Weise immer und immer wieder scheitern.
Die Mischung aus schwarzem Humor, Intrigen und Systemkritik machte Paranoia zu einem außergewöhnlichen Rollenspiel, das in den folgenden Jahrzehnten mehrfach neu aufgelegt wurde. Jede neue Edition griff veränderte gesellschaftliche Bedingungen auf und passte den satirischen Blick auf Machtstrukturen ein wenig an.
Die aktuellen Editionen
2004 wechselte das Spiel von West End Games zu Mongoose Publishing. Die Spielmechanik wurde dort 2017 für eine neue Fassung des TTRPGs grundlegend verändert und Paranoia wurde nun unter der Bezeichnung Paranoia: Red Clearance Edition vertrieben. Ab 2018 erschien jene Edition auch deutschsprachig bei Ulisses. Die neue Fassung modernisierte das Regelwerk mit einem kartenbasierten Spielmechanismus, der Zufallselemente und vereinfachte Konfliktauflösungen betonte. Zudem wurde der Fokus stärker auf das narrative Erzählen gelegt, wodurch sich die Dynamik von Verdächtigungen, Verrat und absurdem Bürokratismus noch intensiver entfalten konnte.
2023 erschien dann jedoch erneut eine grundlegend überarbeitete Version des Spiels unter dem Namen Paranoia: The Perfect Edition. Diese aktuelle Fassung wird häufig als eine Rückkehr zu den Wurzeln des Spiels gesehen. Mongoose änderte die Bezeichnung dieser The Perfect Edition auf seinen Webseiten später zu All New Shiny Edition, was in der Suche nach dem Spielmaterial mitunter ein wenig verwirren kann. Während die Grundprämisse des Spiels erneut gleich blieb, wurde das Spielsystem für die Ausgabe von 2023 erneut überarbeitet, um ein flüssigeres Spiel mit weniger Komplexität zu ermöglichen. Diese Edition entfernte viele der umstrittenen Mechaniken der 2017er-Fassung, insbesondere die Kartenmechanik, und kehrte zum klassischen Stil zurück.
Inhalt und Ziele
Im Kern stellt Paranoia eine satirische Auseinandersetzung mit totalitären Systemen dar. Spielende erleben, wie ein überwachender Staat Misstrauen sät, Menschen manipuliert und ein Gefühl konstanter Unsicherheit sät. Im Mittelpunkt des Spiels steht dabei der allgegenwärtige Computer, der mit absurder Bürokratie, irrationalen Vorschriften und drakonischen Strafen eine Welt reguliert, in der das Regime unantastbar zu sein scheint.
Der Computer weiß alles, sieht alles und kontrolliert jeden Aspekt des Lebens im Alpha-Komplex. Wer gegen eine Regel verstößt – selbst, wenn diese widersprüchlich oder unklar ist – muss mit drastischen Konsequenzen rechnen. Die Strafen sind willkürlich und oft grotesk übertrieben, was die Willkür und Grausamkeit autoritärer Systeme überspitzt darstellt. Dabei fördert die Spielmechanik gezielt das Misstrauen unter den Spielenden und belohnt das Denunzieren, was ebenfalls typische Mechanismen autoritärer Regime widerspiegelt. Wer andere verrät, kann sich selbst vielleicht für einen Moment retten. Und genau dieses System des gegenseitigen Misstrauens sorgt für eine ständige Atmosphäre der Unsicherheit und … Paranoia.
Dabei ist auch der Umgang des Spiels mit Propaganda entlarvend. Das Motto „Glücklichsein ist Pflicht“ zwingt die Spielenden, eine absurde, optimistische Fassade aufrechtzuerhalten – eine Parodie auf die Zwangsfröhlichkeit und Realitätsverzerrung vieler totalitärer Regime. Gleichzeitig werden die Spielenden mit widersprüchlichen Anweisungen konfrontiert, die sie in unlösbare Dilemmata stürzen. Dieser Mechanismus offenbart die Ineffizienz und Absurdität strikter Hierarchien und verdeutlicht, wie Bürger in autoritären Systemen oft gezwungen sind, in einer irrationalen Realität zu agieren.
Neben den Auswirkungen von Unsicherheit, Kontrolle und Propaganda werden auch etliche Dynamiken zwischen Menschen in einem autoritären System deutlich. Es entsteht ein immer stärker werdendes Bewusstsein für Gruppendruck, Verrat und moralische Dilemmata. Spielende müssen Annahmen hinterfragen, Informationen kritisch prüfen und strategisch denken, um zu überleben.
Nachbesprechung und Reflexion
Damit Paranoia über den Spielspaß hinaus zur Reflexion anregt, sollte unbedingt eine strukturierte Nachbesprechung durchgeführt werden. Dies kann helfen, Parallelen zu realen historischen oder aktuellen autoritären Systemen zu erkennen und die Mechanismen von Kontrolle und Propaganda besser zu verstehen. Die Teilnehmenden sollten dabei auch zu einer tieferen Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und Entscheidungen während des Spiels ermutigt werden. Die ethischen Dilemmata, in die die Spielenden unweigerlich geraten, regen dazu an, über moralisches Handeln unter Druck nachzudenken. Zudem bietet das Spiel eine spannende Grundlage, um über Medienkritik und die Rolle von Propaganda in der heutigen Gesellschaft zu sprechen.
Gefahren der Nutzung liegen allerdings darin, dass der humorvoll-satirische Ansatz missverstanden werden kann, wenn er pädagogisch nicht hinreichend deutlich gemacht wird. Im schlimmsten Fall könnte die vom Spiel satirisch nahegelegte Nutzung von Willkür und Macht Spielende dann vielleicht sogar anregen, die Mechanismen auch in der Realität auszuprobieren. Ebenso können die Themen Überwachung und Bestrafung für traumatisierte oder sensible Personen belastend sein. Eine einführende Verdeutlichung des Stilmittels Satire, die anschließende Reflexion der Erfahrungen und die Nutzung von Sicherheitstools sind daher auch bei diesem System unabdingbar, wenn es im Bildungskontext genutzt werden soll.
Fazit
Mithin ist Paranoia also eine intelligente Satire, die vordergründig als humorvoll-absurdes Spiel daherkommt, jedoch in der Reflexion des Spielerlebens unter pädagogischer Begleitung die Denkweisen totalitärer Regime in all ihrer Absurdität und Unmenschlichkeit verdeutlichen kann.
Das Spielerleben kann in diesem Kontext dabei unterstützen, die Gefahren von extremistischen Denkweisen zu entlarven. Spielende können erfahren, wie Überwachung und Propaganda als Werkzeuge der Unterdrückung genutzt werden können – und wie sie in der Realität kritisch hinterfragt werden müssen.
Erhältlichkeit
Die deutschsprachige Fassung der Ausgabe von 2017 wird aktuell nicht mehr vertrieben und eine deutschsprachige Übersetzung der aktuellen Fassung ist noch nicht geplant. Die englischsprachige Ausgabe von 2023 ist dagegen regulär im Handel zu beziehen. Auf DrivethruRPG finden sich außerdem zahlreiche Bücher der verschiedenen Editionen des Spiels als digitale Fassungen.
Letztlich wird in den kommenden Wochen auch ein Brettspiel zu Paranoia unter dem Namen Paranoia: The Uncooperative Board Game bei Modiphius Games erscheinen.




This Blog Post is Part of the #RollKRIT Series („Roll Dice to Knockdown Radicalism with Inclusion & Tolerance“).
Part 10 – Paranoia
The roleplaying game Paranoia was developed in 1984 by Greg Costikyan, Dan Gelber, and Eric Goldberg and was first published by West End Games. It emerged during the Cold War, a time marked by mutual distrust, surveillance, and constant fear of espionage and subversion. These political tensions were satirically reflected in Paranoia: players take on the role of Troubleshooters in Alpha Complex, a dystopian underground city overseen by an all-knowing artificial intelligence known as The Computer.
The Computer demands absolute loyalty, tolerates no deviation, and perceives any form of disobedience – even mere thoughts of it – as a threat. Players must follow orders, expose traitors, and, at the same time, try to save their own skins. However, they themselves are often members of secret organizations or possess mutations – both of which constitute high treason. Ultimately, no one can truly win the game, but everyone can fail repeatedly in bizarre and spectacular ways.
The blend of dark humor, intrigue, and social critique made Paranoia an extraordinary roleplaying game that has been re-released multiple times over the decades. Each new edition adapted the satirical perspective on power structures to reflect changing societal conditions.
The Latest Editions
In 2004, the game moved from West End Games to Mongoose Publishing. The mechanics were fundamentally revised in 2017 for a new version of the TTRPG, now marketed as Paranoia: Red Clearance Edition. Starting in 2018, this edition was also released in German by Ulisses. The new version modernized the ruleset with a card-based system that emphasized randomness and simplified conflict resolution. Additionally, it placed a stronger focus on narrative storytelling, further enhancing the dynamics of suspicion, betrayal, and absurd bureaucracy.
However, in 2023, yet another fundamentally revised version of the game was released under the name Paranoia: The Perfect Edition. This latest version is often seen as a return to the game’s roots. Mongoose later changed the name of The Perfect Edition to All New Shiny Edition on its website, which can sometimes cause confusion when searching for game materials. While the core premise remained the same, the game system was redesigned in the 2023 edition to allow for a more fluid experience with less complexity. This edition removed many of the controversial mechanics introduced in the 2017 version, particularly the card-based system, and returned to the classic style.
Themes and Objectives
At its core, Paranoia is a satirical exploration of totalitarian systems. Players experience how a surveillance state fosters distrust, manipulates people, and instills a sense of constant uncertainty. The omnipresent Computer regulates life in Alpha Complex with absurd bureaucracy, irrational regulations, and draconian punishments, creating a world where the regime seems untouchable.
The Computer knows everything, sees everything, and controls every aspect of life in Alpha Complex. Breaking a rule—even if it is contradictory or unclear—results in severe consequences. Punishments are arbitrary and often grotesquely exaggerated, underscoring the capriciousness and cruelty of authoritarian systems. The game mechanics actively promote distrust among players and reward denunciation, mirroring mechanisms typical of oppressive regimes. Betraying others might provide a temporary advantage, but ultimately, no one is safe. This system of mutual suspicion ensures a constant atmosphere of uncertainty and… paranoia.
The game’s treatment of propaganda is also revealing. The motto Happiness is Mandatory forces players to maintain an absurdly optimistic facade—a parody of the forced cheerfulness and reality distortion found in many totalitarian regimes. Meanwhile, players are given contradictory orders that push them into unsolvable dilemmas. This mechanic highlights the inefficiency and absurdity of strict hierarchies and illustrates how individuals in authoritarian systems are often forced to operate within an irrational reality.
Beyond themes of insecurity, control, and propaganda, Paranoia also sheds light on various social dynamics within an authoritarian system. Players experience the effects of group pressure, betrayal, and moral decisions. They must question assumptions, critically assess information, and think strategically to survive.
Debriefing and Reflection
For Paranoia to encourage reflection beyond mere entertainment, a structured debriefing should be conducted after gameplay. This can help players recognize parallels to real-world historical or contemporary authoritarian systems and better understand the mechanisms of control and propaganda. Participants should also be encouraged to reflect on their own feelings and decisions during the game. The ethical dilemmas that inevitably arise prompt discussions on moral behavior under pressure. Additionally, the game provides a compelling basis for discussions on media literacy and the role of propaganda in modern society.
However, there are risks in using Paranoia if its satirical approach is not made explicitly clear. In the worst case, the game’s satirical take on arbitrary power and oppression could be misinterpreted, leading players to experiment with these mechanisms in reality. Moreover, themes of surveillance and punishment could be distressing for traumatized or sensitive individuals. Therefore, if used in an educational context, it is essential to introduce the game with an explanation of satire, conduct a reflective discussion afterward, and implement safety tools.
Conclusion
Ultimately, Paranoia is an intelligent satire that presents itself as a humorously absurd game while, under guided reflection, exposing the absurdity and inhumanity of totalitarian ideologies. Through gameplay, it can help players recognize the dangers of extremist thinking. Players experience firsthand how surveillance and propaganda can be used as tools of oppression – and why they must be critically examined in reality.
Availability
The 2023 edition is readily available for purchase in regular RPG-stores. Additionally, numerous books from various editions of the game are available in digital format on DriveThruRPG.
Furthermore, in the coming weeks, a board game adaptation titled Paranoia: The Uncooperative Board Game will be released by Modiphius Games.
